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Musil, Robert (eigtl. R. Edler von Musil)

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* 6. 11. 1880 in Klagenfurt
† 15. 4. 1942 in Genf


In Dtl. war er ab 1933 und danach in seiner Heimat ein verbotener Schriftsteller. Heute zählt Musil als Autor seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften (E ab 1905), den er als einen „Essay von ungeheuren Dimensionen“ bezeichnet hat, neben dem Franzosen Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, 1913–27) und dem Iren James Joyce (Ulysses, 1922) sowie Kafka zu den Begründern der modernen Erzählkunst in der ersten Hälfte des 20. Jhs.
Der Sohn eines 1917 geadelten Professors und Mitglied einer Familie mit Beamten, Ingenieuren und Offizieren war für eine militärische Laufbahn vorgesehen. Er besuchte die Kadettenschulen in Eisenstadt und Mährisch-Weißkirchen, trat 1897 in die Technische Militärakademie in Wien ein und begann im folgenden Jahr in Brünn ein Maschinenbau-Studium (bis 1901). Nach einer Tätigkeit als Assistent an der TH Stuttgart studierte Musil in Berlin Philosophie und Psychologie (Promotion 1908), Physik (Untersuchung der Farbwahrnehmung) und Mathematik. Sein eigentliches Interesse galt jedoch der Literatur. Dem Roman Die Verwirrung des Zöglings Törleß (1906) folgte 1911 die Slg. Vereinigungen mit zwei Ehebruchsgeschichten. 1911 siedelte Musil nach Wien über und arbeitete als Bibliothekar an der TH. Im 1. Weltkrieg war er Kompanieführer und nach einer Verwundung Redakteur. Nach einer Anstellung am österreich. Bundesministerium für das Heereswesen (1919–22) lebte er in Wien als freier Schriftsteller. 1922 erschien die Buchausgabe seines Konversationsstücks Die Schwärmer; Musil erhielt dafür 1923 den renommierten Kleist-Preis, uraufgeführt wurde es aber erst 1929 in Berlin. Davor kam Ende 1923 das verwandte „Satyrspiel“ Vinzenz und die Freundin berühmter Männer in Berlin auf die Bühne. Hier wie dort thematisiert das jeweils handlungsarme, von den Dialogen getragene Stück den Verlust der Beziehung zur Wirklichkeit und die Vorherrschaft des „Möglichkeitssinns“. Daneben erschien 1923 die Slg. Drei Frauen über Beziehungen, in denen die Verunsicherung von der Frau ausgeht.
In einem Brief urteilte Musil 1924 über Vinzenz: „Meine Possen-Komödie ist in dichterischer Hinsicht nur ein Brünnlein, ein Jux, ein Versuch, den Blödsinn des Theaters so auszudehnen, dass er Löcher reißt, durch die es einige ernstere Ausblicke gibt.“ Diese „ernsteren Ausblicke“ richteten sich auf das große Romanprojekt Der Mann ohne Eigenschaften, dessen 1. Band 1930 erschien. Die Hauptfiguren der Bühnenstücke erwiesen sich als Vorläufer der Romanfiguren Ulrich und seiner Zwillingsschwester Agathe. Vorbild für den Schriftsteller und Großkaufmann Dr. Paul Arnheim, der sich um die Verbindung von Geist und Wirtschaft bemüht, war der 1922 ermordete dt. Industrielle und Politiker Walter Rathenau.
1931 zog Musil nach Berlin, kehrte jedoch 1933 nach Wien zurück. 1938 emigrierte er mit seiner jüd. Frau Martha in die Schweiz, wo er ständig mit der Ausweisung rechnen musste. Den fragmentarischen 3. Band von Der Mann ohne Eigenschaften gab seine Frau 1943 heraus. 1976 erschienen Musils Tagebücher, 1981 seine Briefe.

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Roman, V 1906, Verf u. d. T. Der junge Törless B. D./Frankr. 1966 Volker Schlöndorff.
In einer „weitab von der Residenz, im Osten des Reiches“ gelegenen Kadettenanstalt für Söhne angesehener Familien gerät der des Kameradendiebstahls überführte Basini in die Gewalt der sadistischen Mitschüler Beinberg und Reiting, mit denen Törleß in freundschaftlichem Kontakt steht; er wird Zeuge der Exzesse roher, von irrationaler Pseudophilosophie verbrämter Gewalt. Nachdem Basini der gesamten Klasse ausgeliefert worden ist, stellt er sich, von Törleß vor noch gesteigerter Grausamkeit gewarnt, dem Lehrerkollegium. In der sich anschließenden Untersuchung der Vorgänge gewinnen die Lehrer den Eindruck, dass Törleß aufgrund der „Verwirrung ganz einfacher Dinge“ im Institut fehl am Platz ist. Der Abgang vom Institut entspricht seinem eigenen Wunsch.
Musil schildert die Pubertätskrise, in der sich die Zöglinge befinden, aus der Sicht des jungen Törleß. Dieser durchlebt in grüblerischer Selbstbeobachtung den Verlust der kindlichen Bindung an die Eltern, das auf die Prostituierte Bozena fixierte dumpfe Sexualverlangen, die von Basini ausgehende homoerotische Anziehungskraft. Vor allem aber quält ihn die Ambivalenz seiner Empfindungen, die sich im Kontrast zwischen dem scheinbar geordneten Institut und den im Bauwerk enthaltenen Geheimkammern als Schauplatz der Torturen Basinis vergegenständlicht. Törleß begegnet diesem Zwiespalt der Wirklichkeit am Beispiel der imaginären Zahlen selbst in der Mathematik.
Die Unfähigkeit der Pädagogen enthüllt sein Gespräch mit dem Mathematiklehrer sowie die Befragung durch das Kollegium. Törleß dagegen klärt aus eigener Kraft sein Verhältnis zur Welt: Er wird sie „bald mit den Augen des Verstandes“ ansehen, „bald mit den andern (…) Ich werde nicht mehr versuchen, dies miteinander zu vergleichen (…)“.

Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, E ab 1905, V Bd. 1 und 2 (= Teil 1–3) 1930 und 1933, Bd. 3 1943, Neuausgabe mit Teilen aus dem Nachlass als „Leseausgabe“ anstelle einer kritischen Ausgabe 1952.
Im Mittelpunkt steht der zu Beginn der Handlung im August 1913 32-jährige Ulrich (sein Nachname bleibt ungenannt), dessen Versuche gescheitert sind, als Offizier, Ingenieur oder Mathematiker ein „bedeutender Mann“ zu werden (vgl. die Biografie Musils). Sein Selbstverständnis als „Mann ohne Eigenschaften“ entspricht der Einsicht, dass im Zentrum der modernen Wirklichkeit nicht der Mensch, sondern „Sachzwänge“ stehen; Erlebnisse ereignen sich „ohne den, der sie erlebt“.
Handlungselemente ergeben sich aus Ulrichs Tätigkeit als Sekretär einer „vaterländischen Aktion“ von Österreichern, die sich auf das 1918 anstehende 70-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josephs vorbereitet, und zwar als „Parallelaktion“ zum 30-jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II. Innerhalb dieses Handlungszusammenhangs steht Ulrich in Beziehung zu Personen, die nach dem Prinzip der Spiegelung auf ihn zentriert sind; sie personifizieren bestimmte Anlagen Ulrichs und bilden gleichsam Projektionen von Ulrichs „Möglichkeitssinn“. Einer extremen „Möglichkeit“ begegnet Ulrich in der Gestalt des Prostituiertenmörders Moosbrugger, dessen Wahnvorstellungen sich mit Ulrichs Erfahrung des „anderen Zustands“ berühren. Als „schattenhafte Verdoppelung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur“ erlebt Ulrich seine Schwester Agathe. Der inzestuösen Geschwisterliebe ist unter dem Titel „Ins tausendjährige Reich“ der 3. Teil des Romans gewidmet. Sie bildet eine „Reise an den Rand des Möglichen“.
Der Auflösung des Zusammenhangs zwischen Individuum und individuellen Eigenschaften entspricht eine dem Essay angenäherte Erzählweise, die „ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu fassen“.


Quelle: Ernst Klett Verlag GmbH
Ort: Stuttgart
Quellendatum: 2009